Um Familientherapie besser zu verstehen, stellen wir uns zu Beginn einen Obstbaum vor. Er steht in unserem Garten und bereitet uns große Sorgen, denn er trägt seit einiger Zeit keine Früchte mehr. Wir stellen uns daher die naheliegende Frage: Was stimmt nicht mit diesem Baum? Ist er krank? Und wenn ja, warum?
Wir möchten dem Rätsel auf den Grund gehen und Bedingungen schaffen, damit der Baum künftig wieder Früchte trägt. Dazu werden wir ganz selbstverständlich unterschiedliche Faktoren – in diesem Fall: Umweltbedingungen – miteinbeziehen. Wie ist das Klima? Hat der Baum genügend Sonnenstunden, damit seine Früchte reifen können? Und gibt es genügend Niederschlag, um ihn mit Wasser zu versorgen? Wie ist die Bodenbeschaffenheit? Sind genügend Nährstoffe verfügbar? Weht häufig starker Wind, der die jungen Fruchtansätze von den Ästen schüttelt? Und gibt es überhaupt genügend Bienen, die die Blüten bestäuben? Schnell wird deutlich: Es gibt eine Vielzahl an Faktoren, die mit dem Ertrag eines Obstbaumes in Verbindung stehen. Und meist wirken diese Faktoren in komplexer Weise zusammen.
Was Familie und Natur verbindet
Stellen wir uns nun einen jungen Menschen vor, sagen wir, einen Jugendlichen im Alter von 13 Jahren. Er war in der Vergangenheit ein fleißiger und motivierter Schüler, doch seit einigen Monaten quälen ihn Ängste und Unlustgefühle. Seine Noten werden zunehmend schlechter und immer häufiger plagen ihn Bauchschmerzen und Übelkeit, die einen regelmäßigen Schulbesuch in den vergangenen Wochen beinahe unmöglich machten. Nach umfassender medizinischer Abklärung steht fest: Es gibt keine körperliche Ursache für die Symptome des Jugendlichen. Wir stellen uns daher dieselben Fragen, die wir bereits von unserem anderen Sorgenkind, dem Obstbaum, kennen. Und schnell wird deutlich: Nicht nur der Obstbaum ist Teil eines großen und vielschichtigen Systems – in diesem Fall das Ökosystem. Auch unser Jugendlicher ist Teil eines solchen Systems – er ist Teil einer Familie und hat ein soziales Umfeld, mit dem er stets bewusst und unbewusst interagiert.
Familientherapie – Ein Blick auf das System
So, wie es wenig sinnvoll erscheint, den Baum losgelöst von seinem Ökosystem zu betrachten, so wenig sinnvoll ist es auch, einen Menschen losgelöst von seinem Bezugssystem zu betrachten. Unser Familiensystem prägt uns, es ist an der Entwicklung des Ist-Zustandes so wie auch an jeder Veränderung dessen maßgeblich beteiligt. Durch die bewusste und unbewusste Interaktion zwischen Individuum und System entsteht eine Wechselwirkung – der Zustand des gesamten Systems hat Einfluss auf das Individuum und der Zustand des Individuums nimmt Einfluss auf das gesamte System.
Die Familie – Der Schauplatz des Geschehens
Wenn wir nun von Familientherapie sprechen, könnten wir es vielleicht so ausdrücken: Das Problem ist Teil der Familie – und die Familie ist Teil des Problems. Im Umkehrschluss bedeutet das jedoch, dass die Familie auch Teil der Lösung und es daher notwendig ist, sie in den Therapieprozess miteinzubeziehen. Anstatt also das symptomtragende Familienmitglied isoliert zu behandeln, öffnet eine Familientherapie den Blick für Interaktionen und Wechselwirkungen innerhalb des Systems, berücksichtigt alle Beteiligten und ihre Beziehungen untereinander und schafft den nötigen Raum zur Veränderung.
Dabei geht es häufig um verschiedenen Bewältigungsstrategien eines Individuums, die einst notwendig waren und sich als hilfreich erwiesen haben. Im Laufe der Entwicklung verlieren jedoch manche dieser Bewältigungsstrategien ihren Nutzen, werden wirkungslos oder von den Betroffenen selbst als hinderlich erlebt. Wie es zur Entwicklung derartiger Bewältigungsstrategien kam kann im Rahmen einer Familientherapie erforscht und die daraus entstandenen Beziehungs- und Verhaltensmuster können bearbeitet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei den Symptomträger*innen um Eltern(teile) oder Kinder handelt.
Warum Familientherapie sinnvoll ist
Gravierende Veränderungen wie die Geburt eines Kindes, eine Trennung/Scheidung oder ein Todesfall wirken sich ebenso auf das Familiensystem aus wie anhaltende Probleme in der Partnerschaft der Eltern oder Verhaltensauffälligkeiten von Kindern. Insbesondere bei Menschen, die an einer psychischen oder körperlichen Erkrankung leiden, ist stets deren gesamtes Familiensystem mitbetroffen und es bedarf einer Entlastung aller Beteiligten sowie eines gemeinsam tragbaren Umgangs mit der herausfordernden Situation.
Familientherapie bedeutet also, den Menschen nicht isoliert zu betrachten, sondern ihn als Ganzes zu denken – als soziales Wesen, für das Beziehung überlebenswichtig ist, und das daher nicht nur ein eigenständiges Individuum, sondern stets auch Teil eines Systems ist. Das eingangs erwähnte Zitat von John Donne fasst es sehr treffend zusammen: „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.“
Wann kann eine Familienberatung, -therapie oder -mediation helfen?
Wenn Sie sich in einer oder mehreren der folgenden Aussagen wiederfinden:
- In meiner Familie gibt es häufig Streit. Die Konflikte eskalieren dabei, es sind intensive Gefühle im Spiel und wir schaffen es kaum, zu einer Lösung zu kommen.
- Mein Kind zeigt Verhaltensauffälligkeiten oder eine Entwicklungsverzögerung im Kindergarten, in der Schule und/oder zuhause.
- Ich streite in letzter Zeit häufig mit meinem Kind und habe das Gefühl, den Zugang zu ihm zu verlieren.
- In Auseinandersetzungen reagiert mein Kind mit heftigen Gefühlsausbrüchen oder körperlicher Aggression, manchmal schreit es bis zur Erschöpfung oder wird mir gegenüber sogar handgreiflich.
- Mein Kind leidet unter wiederkehrenden körperlichen Symptomen, für die medizinische Befunde keine ausreichende Erklärung bieten (z.B. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Ein- oder Durchschlafstörungen, Albträume).
- Ein Paarkonflikt oder eine bevorstehende Trennung/Scheidung belastet die Familie.
- Mein Kind möchte nicht in den Kindergarten/in die Schule gehen. Es kommt morgens nicht aus dem Bett, weint/schreit, verweigert den Schulbesuch oder zeigt körperliche Symptome, die zu einer Krankschreibung führen.
- Mein Kind verletzt sich selbst verletzt, konsumiert regelmäßig Alkohol oder zeigt eine andere Art von Risikoverhalten, das mir Sorgen bereitet.
- Ich möchte die Kommunikation innerhalb meiner Familie verbessern. Für unseren Alltag wünsche ich mir ein Miteinander, das wir als Familie gemeinsam gestalten und mit dem sich alle Beteiligten wohlfühlen.
- Meine Familie muss eine Trennung/Scheidung, eine körperliche oder psychische Erkrankung oder den Tod einer angehörigen Person verarbeiten.
- Bei uns steht eine Trennung/Scheidung im Raum. Wir möchten dieses Szenario in neutraler Atmosphäre besprechen und einen guten Weg finden, es unserem Kind zu sagen.
- Die Fronten innerhalb der Familie sind verhärtet. Für unseren Konflikt wünsche ich mir eine Lösung, die eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten mit sich bringt.
- Im Falle einer Trennung/Scheidung möchten wir uns möglichst außergerichtlich einigen, wenn es um das elterliche Sorgerecht, Besuchsregelungen und/oder Unterhaltsfragen geht.
Noch Fragen? Lassen Sie sich von uns beraten – persönlich oder online!
Buchtipp:
Rainer Schwing & Andreas Fryszer:
Systemische Beratung und Familientherapie